Barrierefreiheit, Healthcare

Barrierefreiheit in der Medizintechnik: Verpackung und Etikettierung – unsichtbare Stolpersteine

An alles wurde bei dem neuen innovativen Therapiegerät für Patienten mit rheumatoider Arthritis gedacht: eine ergonomische Form, klar unterscheitbare Bedienelemente für verschiedene Modi, eine verständliche Bedienungsanleitung zur Einrichtung und Verwendung. Und was war der Showstopper? Die Verpackung. Aufgrund der Einschränkung in der Feinmotorik war es für Patienten äußert schwierig die Verpackung des Therapiegeräts zu öffnen. Zusätzlich sind Packungsbeilage und Bedienungsanleitung mit einem Tape verschlossen, dass sich nur durch mühsames Abkratzen lösen lässt. Da stellt sich die Frage: Ist ein solches Verpackungsdesign bei dieser Krankheit mit ihren Begleiterscheinungen sinnvoll?

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Das ist kein ungewöhnlicher Fall. Die Verpackung und oft auch die Gebrauchsanweisung oder sonstiges Begleitmaterial sind oft der erste Kontakt, den die Nutzer mit dem Medizinprodukt oder Arzneimittel haben - und stellen Sie sich vor, Sie wollen die Verpackung Ihres Arzneimittels öffnen, das Ihr Wohlbefinden verbessert oder sogar lebenswichtig ist, und es fällt Ihnen schwer, die Verpackung oder die Gebrauchsanweisung zu öffnen, möglicherweise auch noch verbunden mit Schmerzen? Oft erzählten mir Studienteilnehmer, dass sie in diesem Fall ihren Arzt um ein alternatives Medikament bitten würden, die Geräte anders als vorgesehen aufbewahren oder immer eine andere Person bitten müssten, die Geräte für sie vorzubereiten – wie unangenehm und nervig. Wie wirksam und bahnbrechend das Produkt auch sein mag, wenn die Anwender zu Beginn bereits an der schlechten Gestaltung von Verpackung, Gebrauchsanweisung oder anderen Labelingaspekten scheitern, leidet die Erfahrung mit dem Produkt und damit der empfundene Komfort.

In verschiedenen Usability-Studien haben das Team und ich festgestellt, dass bei Packaging und Labeling Materialien, wie z. B. Gebrauchsanweisungen, user-centricity inklusive Accessibility Aspekten, nicht sehr gut berücksichtigt werden. Wer wird mein Produkt benutzen? Welche kognitiven, physischen, sensorischen oder umgebungsbezogenen Einschränkungen haben meine Nutzer? Was muss ich bei der Gestaltung von Packaging & Labeling beachten?

Gehen Sie vom schlimmsten Fall aus

In der IT-Branche geht man bei der Konzeption, z.B. einer Webseite, immer vom "worst case” eines Nutzers aus. In der IT ist das ein Mensch, der keinerlei Computervorkenntnisse hat. Das Ziel bei der Konzeption ist, dass sich dieser im Idealfall intuitiv und ohne Hindernisse auf der Webseite zurechtfinden kann.  Nun sprechen wir in der Medizintechnik nicht über Webseiten, sollten diesen Ansatz aber auch hier berücksichtigen.  Der "Worst Case" kann hier das Ausmaß der Einschränkungen sein, die ein Nutzer z. B. aufgrund seiner Krankheit und/oder seines (fehlenden) Vorwissens hat.

Sind Packaging & Labeling Materialien so konzipiert, dass der “worst case”, also ein stark eingeschränkter Nutzer ohne Vorkenntnisse, sie ohne weiteres verwenden kann? Was könnte bei der Nutzung schief gehen? Was passiert, wenn die Verpackung grob aufgerissen wird, vielleicht weil der Anwender einen Tremor hat? Besteht die Gefahr, dass das Produkt beschädigt wird, z. B. weil es aus der Verpackung auf den Boden fällt? All diese Fragen müssen berücksichtigt werden – was Usability& Accessibility Aspekte zum Teil der Risikobetrachtung werden lässt.

Kleine Maßnahmen können eine große Wirkung haben

Dinge wie eine deutlich sichtbare Perforation können schon Wunder bewirken. Das hat ein Medizinprodukthersteller für seine Sealing tapes auch beachtet, trotz Perforation wurde das Tape dennoch mühselig von den Nutzern ab gepult. Die Perforation wurde nicht wahrgenommen. Kleine farbliche Abhebungen können hier helfen, um eine schnelle Erkennbarkeit zu gewährleisten.

Grundsätzlich sind Farbcodierungen immer ein gutes Tool, um Elemente hervorzuheben. Doch welche Farben würden Sie nutzen, um wichtige Elemente leicht erkennbar zu machen?  Rot oder Grün, die klassischen Signalfarben? Was ist mit Menschen, die eine rot-grün Farbsehschwäche haben? Für sie könnte das helle Grün nur ein tristes Grau sein, das aufgrund des übrigen Verpackungs- oder Etikettendesigns möglicherweise nicht als Highlight wahrgenommen wird.  Und Elemente in der Farbe Grau werden oft als "inaktiv" oder "unwichtig" interpretiert - und genau hier können Probleme entstehen. Damit will ich nicht sagen, dass Sie niemals Rot oder Grün verwenden sollten - es ist nur ein einfaches Beispiel, um zu verdeutlichen, welchen Unterschied eine Farbwahl für Nutzer mit Beeinträchtigungen machen kann. Es ist wie so oft: Es sind die kleinen Dinge, die große Probleme verursachen können. Der Teufel steckt wie so oft im Detail.

Bleiben wir beim Thema Sehen: Ist Ihr Produkt für eine ältere Zielgruppe ausgelegt? Studien zeigen, dass mehr als die Hälfte aller Deutschen eine Sehhilfe benötigen (https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/109584/Mehr-Brillentraeger-durch-mehr-Bildschirmnutzung), Tendenz steigend mit zunehmendem Alter. Wie groß ist der Text auf Ihren Verpackungen und Labeling-Materialien? Haben Sie eine größere Schrift in der Bedienungsanleitung in Betracht gezogen? Arbeiten Sie nur mit Text oder auch mit Bildmaterial und allgemein bekannten Symbolen?

Und noch mehr sollte beachtet werden: In welcher Situation befinden sich die Anwender, wenn sie das Produkt benutzen? Sind sie in einer ruhigen Umgebung oder vielleicht in einer Notsituation, in der schnelles Handeln gefragt ist? Haben sie die Zeit, eine große Menge Text in kleiner Schrift zu lesen, oder brauchen sie eher eine schnelle Anleitung mit klaren Bildern?

Solche "Kleinigkeiten" wie eine farbige Perforation oder ein großer Text, eine einfache Sprache und eine visuelle Gestaltung, die eine enorme Auswirkung auf die Erfahrung des vorgesehenen Nutzers haben, können ein Produkt von der Konkurrenz abheben - und ja, das fängt schon beim "Unboxing" an.  

Niedrigschwelligkeit ist das Stichwort

Stellen Sie sich vor, einer Ihrer Nutzer möchte das neue Therapiegerät einrichten. Die Person bleibt bei einem Schritt in der Gebrauchsanweisung stecken. Welche Möglichkeiten haben Sie hier, um dem Nutzer so einfach und schnell wie möglich zu helfen?

Die "Standard"-Hilfe wäre es, irgendwo in der Gebrauchsanweisung eine Kundendienstnummer abzudrucken.  Dies ist nicht besonders niederschwellig. In der Regel ist diese auch klein oder versteckt und die Hürde, tatsächlich eine Supportnummer anzurufen, in der Warteschleife zu hängen, ist oft hoch - und je nach anvisierter Nutzergruppe nicht der schnellste und bequemste Weg.  Niederschwellige und einfache Ansätze könnten darin bestehen, die Möglichkeit einer elektronischen Gebrauchsanweisung (eIFU) über einen QR-Code anzubieten oder der Code führt zu einer Website mit FAQs oder einem Hilfe-Chat-Portal. Dies hat auch einen praktischen Nebeneffekt: Wenn Sie dem Kunden "Hilfe zur Selbsthilfe" bieten, reduzieren Sie auch die Kosten für den Kundensupport. Außerdem ist es immer vorteilhaft, mehrere Optionen für die Hilfe anzubieten, um unterschiedliche Präferenzen und situationsbedingte Umstände zu berücksichtigen.

Hilfestellungen: Anschaulich und einfach

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Anleitungen für Defibrillatoren nur mit Bildern arbeiten? So kann theoretisch sogar ein Kind verstehen, wie dieses Gerät funktioniert. Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte. Verwenden Sie klare visuelle Darstellungen in den Gebrauchsanweisungen oder erstellen Sie sogar Video-Tutorials, um den Nutzern weitere, einfache Hilfestellungen zu geben. Denken Sie auch hier an Accessibility-Aspekte. und die möglichen Einschränkungen der von Ihnen anvisierten Nutzergruppe, wenn Sie weitere Hilfsmittel bereitstellen.

Für Typ-1-Diabetes-Patienten können beispielsweise Sehbehinderungen ein Symptom sein. Daher sollten Verpackungs- und Begleitmaterialien mit hohen Kontrasten arbeiten. Symptome wie Müdigkeit, Schlafprobleme oder verminderte geistige Leistungsfähigkeit, z. B. bei Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen, können die kognitiven Fähigkeiten einer Person beeinflussen. Daher sollten Anleitungen langatmige und komplexe Beschreibungen vermeiden und eine einfache Sprache und visuelle Darstellungen verwenden, um den mental Workload für diese Nutzergruppe zu verringern und ihnen das Verständnis der Anweisungen für ihre Medikamente zu erleichtern.   

Medizintechnik: User Experience am eigenen Körper

Im Bereich der Medizintechnik sind eine sichere Anwendung und eine positive Nutzererfahrung äußerst wichtig - vor allem, wenn die Produkte vom Patienten selbst oder von Angehörigen ohne medizinische Ausbildung verwendet werden. Wer jedoch einmal schlechte Erfahrungen mit einem Gerät am (eigenen) Körper gemacht hat, wird es wahrscheinlich nie wieder benutzen und allen in seinem Umfeld davon abraten. Denn wenn etwas schief geht, kann das mit Schmerzen oder anderen negativen Auswirkungen verbunden sein. Deshalb ist es besonders wichtig, vor der Produkteinführung mit Hilfe einer nutzerzentrierten Entwicklung alle Stolpersteine für die vorgesehenen Nutzer zu beseitigen, angefangen bei Packaging & Labeling, um Zugänglichkeit und Komfort für alle Nutzer zu gewährleisten.

Vermeidet Kosten, Risiken und unzufriedene Kunden: User Experience als repetitiven Prozess mitdenken

Schlecht gestaltete Verpackungen und Labelingmaterialien können das Risiko bergen, dass die Anwender das Produkt nicht richtig verwenden können. Wenn beispielsweise eine Spritze beim unsachgemäßen Öffnen aus der Verpackung fällt und zerbricht, kann dies dazu führen, dass der Patient die ihm verschriebene Dosis nicht erhalten kann. Das Wohlergehen des Patienten kann von einem guten Packaging- und Labelingdesign abhängen.

Bei der Konzeption von Produkten und dazugehörigem Material müssen viele Parteien einen Kompromiss finden: Management, Human Factors, Design Engineering, Regulatory, Quality,  Vertrieb, Marketing,  und alle anderen Beteiligten. Daher ist es sinnvoll, User Experience direkt von Beginn an in den Entwicklungsprozess zu integrieren. Wenn bei einem Test herauskommt, dass Probanden die Verpackung intuitiv oben, anstatt wie vorgesehen an der Seite, öffnen, kann sich das Designteam an dieser Erkenntnis für den weiteren Prozess orientieren und so zum Beispiel vermeiden, dass eine Spritze beim Öffnen herausfällt. Solche Konzepte bei bereits bestehenden Produkten nachträglich zu integrieren ist deutlich aufwändiger und teurer als diese direkt in die Entwicklung zu integrieren. Zusätzlich wird eine negative Assoziation mit der Marke und dem Produkt von vorneherein verhindert.

Unsere Gedanken in Kürze: Was sollte bei der Gestaltung von Verpackungen und Etiketten beachtet werden?

  • Die ganze zentrale Frage: Wer ist meine Zielgruppe?
  • In welchen Situationen wird mein Produkt verwendet (umgebungsbezogene Einschränkungen)?
  • Welche (körperlichen, kognitiven oder sensorischen) Einschränkungen bringt meine Zielgruppe mit?
  • Welche Hürden müssen meine Nutzer überwinden?
  • Wie können wir diese Hürden für unsere Anwender möglichst niedrigschwellig halten?

 

Eine gute User Experience schaut über das Produkt an sich hinaus und hat die ganzheitliche (Anwendungs-)Erfahrung im Blick. Dazu gehören auch die Erfahrungen mit dem Begleitmaterial, wie Verpackung und Gebrauchsanweisung. Das Design muss sich an den Nutzer anpassen, nicht andersherum. Hier gibt es eine Menge versteckter Stolperfallen und Fallstricke, die erst entdeckt werden müssen. Die gute Nachricht: Sie müssen dies nicht allein bewältigen. Dafür gibt es User-Experience-Experten, die Ihnen dabei mit Wissen und Leidenschaft zur Seite stehen.

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Autorin

Tabea Daunus

Tabea ist eine unserer UX Researcherinnen in Hamburg, die seit 2015 User Research Studien durchführt. Als zertifizierte Medical Device-Usability-Expertin (TÜV) interessiert sie sich vor allem für den Bereich der Medizinprodukte-Usability / Human Factors Research. Normen und Richtlinien schrecken sie nicht, und sie arbeitet gerne mit Liebe zum Detail. Neben der Forschung ist sie bei uintent für das Qualitäts- (ISO 9001) und Informationssicherheitsmanagement (TISAX) zuständig.

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