Trends, Barrierefreiheit, Richtlinien

Das Europäische Gesetz zur Barrierefreiheit und seine Auswirkungen auf UX

EU-Richtlinie zielt auf bessere Zugänglichkeit von Produkten und Dienstleistungen ab - und hat weitreichende Auswirkungen auf UX-Design und UX-Forschung

Gastbeitrag

06 MIN

Im Frühjahr 2019 hat die EU eine Richtlinie über die Anforderungen an die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen veröffentlicht. EU-Richtlinien sind zwar nicht mit rechtsverbindlichen Gesetzen gleichzusetzen, die Mitgliedsstaaten sind jedoch aufgefordert, sie in nationales Recht umzusetzen. Deutschland beispielsweise ist dieser Verpflichtung bereits mit der Verabschiedung des sogenannten Barrierefreiheitsgesetzes am 20. Mai 2021 nachgekommen (MDR, 2021). Die konkreten Anforderungen an die Barrierefreiheit werden aber erst im Sommer 2022 im Rahmen einer Rechtsverordnung festgelegt (Miesner, 2021). Bislang hat das Europäische Barrierefreiheitsgesetz (engl. European Accessibility Act, kurz EAA) in der Öffentlichkeit keine allzu große Beachtung gefunden, und es scheint, dass die Nachricht inmitten der Pandemie etwas untergegangen ist. Es macht jedoch Sinn, sich näher damit zu befassen, da es weitreichende Auswirkungen auf UX-Design und UX-Forschung hat.

Zunächst einmal gilt das EAA gleichermaßen für Hersteller, Importeure, Händler sowie für Dienstleister. Es deckt ein breites Spektrum von Produkten und Services ab, die nach dem 28. Juni 2025 in Verkehr gebracht werden bzw. von dem Verbraucher genutzt werden sollen.

Die folgenden Produkte werden von dem EAA abgedeckt:

 

Darüber hinaus gilt die Richtlinie auch für die nachfolgenden Dienstleistungen:

  1. Elektronische Kommunikationsdienste (mit Ausnahme von Übertragungsdiensten, die für die Erbringung von Machine-to-Machine-Diensten genutzt werden)
  2. Dienstleistungen für den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten
  3. Bestimmte Elemente von Personenbeförderungsdiensten im Luft-, Bus-, Schienen- und Schiffsverkehr
  4. Bankdienstleistungen
  5. E-Books und die dazugehörige Software
  6. E-Commerce-Dienstleistungen

Die Richtlinie bezieht sich auf Produkte und Dienstleistungen, deren ursprüngliche Gestaltung oder spätere Anpassung für Menschen mit Behinderungen nicht zugänglich sind. Sie zielt auf die Förderung der "vollen und wirksamen gleichberechtigten Teilhabe" (EUR-Lex, 2019) ab, indem auf die besonderen Bedürfnisse von Personen mit Behinderungen eingegangen wird.

Menschen mit Behinderungen werden in Anlehnung an das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN CRPD) definiert. Die entsprechende Definition bezieht sich auf Personen mit "langfristigen körperlichen, geistigen, intellektuellen oder sensorischen Beeinträchtigungen, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren ihre volle und wirksame, gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft behindern können" (EUR-Lex, 2019). Darüber hinaus hebt das EEA hervor, dass auch andere Personen, die funktionale Einschränkungen erfahren, wie ältere Menschen, Schwangere oder Personen, die mit Gepäck reisen, von der Richtlinie profitieren würden. Folglich umfasst der Anwendungsbereich der Richtlinie auch altersbedingte Beeinträchtigungen oder andere Ursachen, die mit der Leistungsfähigkeit des menschlichen Körpers zusammenhängen, ob dauerhaft oder vorübergehend.

Die Richtlinie kann in voller Länge hier eingesehen werden.

 

Wer profitiert von barrierefreien Produkten?

Obwohl die Richtlinie bestimmte Übergangsfristen zulässt und Kleinstunternehmen im Dienstleistungssektor und in bestimmten Fällen den Inhalt von Websites und mobilen Anwendungen ausschließt, sollten ihre Auswirkungen nicht unterschätzt werden. Dies gilt insbesondere angesichts des breiten Spektrums von Produkten und Dienstleistungen, die von dem EEA abgedeckt werden und der großen Zahl von Personen, die von barrierefreien Produkten und Dienstleistungen profitieren. Um Letzteres mit einigen Zahlen zu untermauern: Von der deutschen Gesamtbevölkerung von 83,2 Millionen Einwohnern (Statistisches Bundesamt, 2021) leiden 13 Millionen an einer Behinderung (MDR, 2021), 4 Millionen sind farbenblind (GEO, 2022), etwa 24 Millionen sind 60 Jahre oder älter (Statista, 2022) und mehr als 6 Millionen können nicht richtig Deutsch lesen und schreiben (Der Tagesspiegel, 2019).   

Unabhängig von gesetzlichen Bestimmungen ist Barrierefreiheit ein Thema, das aufgrund seiner sozialen Dimension sowohl für Unternehmen als auch für Privatpersonen von großer Bedeutung ist. Sich für eine gleichberechtigte Teilhabe einzusetzen, geht weit über die Einhaltung von Gesetzen hinaus: Es ist eng mit persönlichen und unternehmerischen Werten innerhalb einer Gesellschaft verbunden und ein Motor für Innovationen.

 

Aber was bedeutet das für UX-Design und UX-Forschung?

Vor allem aber bedeutet es, dass die Zeit für Maßnahmen zur Verbesserung der Barrierefreiheit jetzt gekommen ist. Das Jahr 2025 mag weit in der Zukunft liegen, aber strukturelle Veränderungen erfordern lange Vorlaufzeiten. Gerade weil einige Experten und Vertreter von Betroffenenverbänden die von dem EAA angestoßenen Veränderungen nur als einen ersten Schritt in eine barrierefreie Zukunft betrachten (MDR, 2021), ist zu erwarten, dass das Thema weiter an Bedeutung gewinnen wird.

„Der Designprozess und die Designprinzipien müssen von Grund auf überdacht werden.“

Darüber hinaus ist es unerlässlich, den Designprozess und die Designprinzipien von Grund auf zu überdenken. Das UX-Design muss einem neuen Ansatz folgen, der nicht nur verschiedene Aspekte von Zugänglichkeit berücksichtigt, sondern Zugänglichkeit als Kernprinzip betrachtet. In der Tat gibt es bereits einige positive Entwicklungen, wie z. B. Websites in leicht lesbarer Sprache und optimiert für Screenreader, Chatbots und Untertitel.

In der UX-Forschung müssen Menschen mit Behinderungen und Funktionseinschränkungen aktiv in Studien und Umfragen einbezogen werden, um ihre Bedürfnisse besser zu verstehen. Das bedeutet auch, ihre spezifischen Bedürfnisse zu berücksichtigen, z. B. in Bezug auf die Zugänglichkeit von Forschungseinrichtungen, die Verständlichkeit von Anleitungen und Fragebögen oder die Häufigkeit von Ruhephasen zwischen den Testphasen.

Das alles klingt nach einer Menge Arbeit? Das mag sein, aber Barrierefreiheit ist ein Prozess - und jeder Schritt zählt. Fangen wir also an, denn es gibt viele gute Gründe, dies zu tun!

 

 

In unseren Folgeartikeln werden wir verschiedene Themen rund um Barrierefreiheit und UX-Design / UX-Forschung näher beleuchten. Bleiben Sie gespannt!

 

Quellen:

EUR-Lex (2019): Directive (EU) 2019/882 of the European Parliament and of the Council of 17 April 2019 on the accessibility requirements for products and services. Available at: https://eur-lex.europa.eu/eli/dir/2019/882/oj?locale=en (08.03.2022)
GEO (2022): Interaktive Bilder. Wie farbenblinde Menschen die Welt sehen. Available at:   https://www.geo.de/wissen/gesundheit/19493-rtkl-interaktive-bilder-wie-farbenblinde-menschen-die-welt-sehen (08.03.2022)
MDR (2021): Reaktionen – Was das neue Barrierefreiheitsgesetz bringt. Available at:   https://www.mdr. de/religion/neues-barrierefreiheits-staerkungs-gesetz-reaktionen100.html (08.03.2022; Update 16.02.2023 - Artikel nicht mehr online)
Miesner, Simone/Bundesfachstelle Barrierefreiheit (2019): VdK-Symposium „Barrierefreies Wohnen und Leben“. Available at: https://www.bundesfachstelle-barrierefreiheit.de/SharedDocs/Downloads/DE/Veroeffentlichungen/vortrag-bfsg.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (08.03.2022)
Statista (2022): Bevölkerung - Zahl der Einwohner in Deutschland nach relevanten Altersgruppen am 31. Dezember 2020. Available at: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1365/umfrage/bevoelkerung-deutschlands-nach-altersgruppen/ (08.03.2022)
Statistisches Bundesamt (2021): Bevölkerungsstand: Amtliche Einwohnerzahl Deutschlands 2021. Available at: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/_inhalt.html (08.03.2022)

 

 

Ansprechpartnerin

Caroline Eckerth

Caroline hat mehr als 3 Jahre Erfahrung in der UX-Forschung. Sie ist Expertin für Mixed-Methods-Ansätze und internationale Forschungsprojekte. Sie ist verantwortlich für Usability-Tests im Bereich von In-Car-Infotainment-Systemen und Haushaltsgeräten sowie für agile User-Feedback-Tage mit Ergebnisworkshops. Caroline ist eine unserer Kolleg:innen in unserem Münchner Büro.

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