UX im Automobilbereich, Sprachassistent, Trends

Digitaler Kompagnon oder minimalistischer Assistent, wie viel ist zu viel für deutsche Autofahrer:innen?

Stellen Sie sich vor: Sie haben einen langen Arbeitstag hinter sich, es ist kalt und bereits dunkel. Müde setzen Sie sich in Ihr Auto, schalten es ein und sofort ertönt eine angenehme Stimme: „Hallo! Wie geht es Dir heute? Die Temperatur beträgt -3°, soll ich Dir einen warmen Kakao zubereiten?“. Bevor Sie antworten können, hören Sie schon, wie das Wasser in dem integrierten Getränkevollautomat ihres Autos vorsorglich erhitzt wird. Die Stimme ertönt erneut: „Übrigens: Deine Mutter hat heute Geburtstag, möchtest Du sie anrufen?“.

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Ein Horror oder purer Luxus?

Finden Sie diese Vorstellung gruselig oder angenehm? Hier scheiden sich die Geister. Wie soll das Auto mit uns interagieren? Soll es uns nur bequem von A nach B bringen oder ein technischer Haustierersatz sein? Eine Erweiterung des Smartphones oder auf minimalistischen Funktionen reduziert sein?

Unsere These: Je nachdem, aus welchem Land Sie kommen, würden Sie diese Frage vermutlich anders beantworten. Denn was wir von unserem (intelligenten) Auto erwarten, wie wir es Nutzen, welche Funktion es erfüllen soll und was wir nach außen damit darstellen möchten, ist abhängig von Land und Kultur. Da die neuste Technologie im eAuto Markt gerade überwiegend aus China kommt, schauen wir uns dies im Vergleich zu Deutschland an.

Was ist der Status Quo?

Die neusten eAuto Modelle sind allesamt mit einer Bildschirm-Konsole ausgestattet, die per Touch bedienbar ist. Um die Aufmerksamkeit während der Fahrt von der Konsole zu lenken, sind die Systeme mit Sprachassistenten gestützt, Funktionen wie die Sitzheizung anzuschalten können per Sprache aktiviert werden. Dazu kommt (in der Regel bei chinesischen Herstellern) eine Varianz an Spielereien: Von Gitarrenseiten, die in der Seite der Tür gespannt sind zum Musizieren während der Fahrt, Karaoke Funktion, Massagesitze oder einem integrierten Minikühlschrank, es sind keine Grenzen gesetzt.

Statussymbole und Mobilität: Die Bedeutung des Autos in Deutschland und China

Darf man in Ihrem Auto Essen? Wie oft fahren Sie in die Waschanlage? Hat Ihr Auto einen Namen? Das Auto als Statussymbol verliert an Bedeutung, das liest man gerade überall (Quelle). Dabei darf man nicht vergessen: Diese Bedeutung mag zwar schwinden, ist damit aber noch lange nicht aufgehoben.

Trotz aller Mobilitätstrends und -alternativen, wie CarSharing, ist die PKW-Dichte in Deutschland so hoch wie noch nie (Quelle) und das Privatauto unangefochtene das Fortbewegungsmittel Nummer eins. Das Auto steht für Freiheit und einen gewissen Status. Auch wenn die Markentreue, besonders bei eAutos nachlässt (Quelle), sind Status und Fahrzeugmarke immer noch fest im gesellschaftlichen Denken verbunden. Mit dem Auto, dass man fährt, zeigt man wer man ist. VW Polo? Waghalsiger Fahranfänger. Volvo? Familienkarre. Zwar nehmen diese Zuschreibungen immer mehr ab, aber ein Auto ist in Deutschland noch lange davon entfernt, einfach nur ein Auto zu sein.

A Never Ending Lovestory? Deutsche und ihre Autos

Deutsche lieben ihre Autos nach wie vor: Nach einer aktuellen Studie des DAT ist die emotionale Bindung zum eigenen Auto mit 71 % bei Gebrauchtwagen Kunden und 77 % bei Neuwagen Kunden sehr hoch. Die verbleibenden Prozent empfinden die Beziehung zu ihrem Auto eher als unemotional, wie z.B. zu einem Staubsauger (Quelle). In Umfragen zeigt sich immer wieder, dass Deutsche ihren Autos Namen geben und das Fahrzeug damit vermenschlichen. Es ist auch nicht besonders ungewöhnlich, mit dem eigenen Auto zu sprechen, was zeigt, wie tief diese persönliche Beziehung zum Auto gehen kann (Quelle). Die beliebtesten Spitznamen für Autos sind übrigens „Dicker“, „mein Kleiner“, „mein Lieber“ oder „Bärchen“ (Quelle)

Wenn (einige) Deutsche sowieso mit ihren Autos sprechen, dann wäre es doch wunderbar, wenn das Auto gleich antworten würde, oder? Nur wenn die Stimme weiblich ist, geht der Spitzname „Dicker“ nicht mehr so leicht von der Zunge.

Welchen Stellenwert hat das Auto in China?

Geben Chinesen ihren Autos auch Spitznamen? Zumindest ausländische Marken bekommen lustige Spitznamen wie „Fass mich nicht an" (BMW) oder “A gangster in a suit,” (Audi RS Serie) (Quelle). Lange galten Deutsche Marken in China als Modelle der Oberklasse, werden aber mit Zunahme der eAutos von chinesischen Marken abgelöst (Quelle), die einen raschen Aufstieg als neue Statussymbole erleben (Quelle). Die pwc-Studie „Automobilindustrie und Mobilität in China“ zeigt: „Das Auto ist Symbol für ein besseres Leben“ (Quelle S. 33). In vielbevölkerten, überdimensionalen und lauten Großstädten ist es ein Luxus, in den privaten Raum des eigenen PKWs flüchten zu können, anstatt mit dem überfüllten Nahverkehr vorlieb nehmen zu müssen (Quelle 43).

Das Auto ist ein Luxus. Die Motivation des Zur-Schau-Stellens dieses Luxus ist allerdings eine andere als in der westlichen Welt: Es geht nicht um Individualismus. Man möchte sich nicht abheben, sondern nur zeigen, an welcher Stelle man sich im gesellschaftlichen Gefüge bewegt.

Runtergebrochen könnte sagen: In der westlichen Welt schickt man mit dem Fahren eines bestimmten Autos eine Botschaft „Schaut mich an, ich bin fahre einen Porsche, ich bin anders als ihr!“. In China schickt man keine Botschaft, man zeigt nur: Ich gehöre zur Oberschicht (Quelle S.33).

Ob Deutschland oder China: Emotionen spielen eine große, aber unterschiedliche Rolle

Doch auch wenn die Botschaft nach außen nüchterner ist, Emotionen sind bei dem jüngeren Publikum im modernen China ein wichtiges Thema, das sich auch in Produkten widerspiegeln soll. Autos sind ein Statement, sie sollen persönlich sein, ohne sich gegen die Masse richten (Quelle S. 33).

In Deutschland fällt auf, dass Emotionen in Bezug auf das Auto meistens positiv belegt sind, vor allem wenn es um den Fahrspaß geht. Diverse Studien zeigen, dass den Deutschen das Autofahren an sich nach wie vor sehr viel Spaß macht.

 

Ist mein Auto ein Mensch? Der Fall NOMI

Wir stellen fest: Sowohl auf dem deutschen als auch auf dem chinesischen Markt sollen Emotionen und Auto verbunden werden. Wir erinnern uns an die Studie zu der emotionalen Bindung der Deutschen und ihren Autos: Nur 21-29% gaben an, dass sie eine eher unemotionale Bindung zu ihrem Auto haben. Wie wird sich dies verändern, wenn man um die „Persönlichkeit“ des Autos gar nicht mehr drum herum kommt, weil sie Teil des Autos ist? Wird einem die Bindung aufgezwungen? Müssten die Deutschen aufgrund ihrer emotionalen Bindung zum Auto nicht begeistert sein, wenn das Auto ebenfalls Emotionen zeigt?

Bei den eAutos der chinesischen Marke NIO findet sich die Persönlichkeit in Form einer sprechenden künstlichen Intelligenz Namens „NOMI Mate“ wieder, übrigens die weltweit erste AI, die fest in massengefertigten Autos integriert war (Quelle). NOMI wird dabei ganz gezielt als „Liebenswerter und hilfsbereiter Roboter für die emotionale Bindung zwischen Fahrer und Fahrzeug“ beworben und soll als „Weltweit erstes Gerät zum Aufbau von Vertrauen zwischen Passagieren und KI“ funktionieren. Das Besondere daran: NOMI hat ein Gesicht und reagiert auf Ansprachen mit digitalen Gesten, dreht sich zu der Person, die gerade spricht und hilft mit allerlei praktischen Dingen, wie z.B. die Temperatur per Sprache einzustellen oder ein Foto zu machen. Und noch viel mehr: NOMI lernt mit der Zeit Routinen und Muster, kann Ereignisse planen oder Routen vorschlagen (Quelle). Unser Beispiel aus dem Intro könnte also ein fast reales Szenario mit NOMI sein. NOMI ist also ein ganz menschlicher Roboter.

 

 

NOMI in China: Ein absoluter Erfolg

Auf dem chinesischen Markt ging das Konzept komplett auf. NOMI wird sogar eingekleidet, um es noch etwas menschlicher zu machen. Die Verbindung von Emotionen zum Auto hat eine neue Dimension auf Haustierlevel erreicht. In ausländischen Testformaten (chinesisch oder amerikanisch) wird NOMI bejubelt, das Wort „Cute“ fällt sehr oft, viele schreiben, dass sie „NOMI lieben“.

NOMI in Deutschland: Naja.

In deutschen Testformaten wird NOMI maximal als „nette Spielerei“ bezeichnet, die Stimme und Interaktion als nervig empfunden. Die Kommentare dazu reichen von „Absoluter Schrott, den man nicht braucht“, über „Das kann man hoffentlich abschalten?!“ bis hin zu „Für mich definitiv ein Grund das Auto nicht zu kaufen!“. Heißt das, wir wollen doch nur ein minimalistisches System, dass uns von A nach B bringt? Ist es schon zu viel, wenn die Stimme, die aus dem Auto kommt, einen eigenen Namen hat?

Im neusten NIO Modell ET5, dass seit Juni 2023 auch in Deutschland lieferbar ist, wurde mit einer dezenteren Variante „NOMI Halo“ nachgerüstet (Quelle), die nur noch aus einem blau leichtenden Ring besteht (Quelle), auf das Gesicht und die damit visuelle Menschlichkeit wurde verzichtet. Nun ist der süße Roboter NOMI optisch nicht mehr als unsere altbekannten Freundinnen SIRI und Alexa, nur mit Lernfähigkeit. Ein Zufall oder eine Reaktion auf den europäischen Markt?  War NOMI Mate zu verspielt? In China kam NOMI offensichtlich hervorragend an, also warum wurde das Konzept geändert?

Unterschied Deutschland vs. China?

Gehen wir nun auf unsere Thesen sein, weshalb digitale Avatare / Haustiere / Compagnons in Deutschland nicht annähernd so gut anzukommen scheinen, wie in China.

These 1: Unterschiedliche Selbstverständlichkeit im Umgang mit Assistenten und Angestellten

In der chinesischen Oberschicht und gut situierten Mittelschicht ist es deutlich gängiger als in Deutschland (Quelle), eigene Angestellte zu haben. Sie sind es eher gewohnt, Aufgaben zu delegieren und sich auf andere zu verlassen, ob Mensch oder AI. Deutsche sind es im Privaten nicht so selbstverständlich gewöhnt, Aufgaben an Personen oder gar AIs abzugeben. In Deutschland beschäftigt z.B. nur jeder 10. Haushalt eine Haushaltshilfe (Quelle). Im Vergleich zu anderen Ländern, sind auch deutsche Unternehmen nicht so streng hierarchisch aufgebaut, das Delegieren geht eher mit Verantwortung, als mit einzelnen Aufgaben einher (Quelle). Das könnte ebenfalls ein Faktor darstellen, warum Deutsche sich erst an Systeme gewöhnen müssen, die proaktiv Aufgaben abnehmen und erleichtern wollen.

These 2: German Angst und Entertainment vs. Ablenkungspotenzial

Manche schwören auf Apple, manche schwören auf Android. Manche möchten mehr Design und Technologie, manche möchten mehr Spielerei und Knöpfe. Der Durchschnittsdeutsche ist das Technologie-Level, welches in China seit Jahrzenten Alltag ist, einfach noch nicht gewöhnt. Wir leiden unter German-Angst, dem tief verwurzelten Bedürfnis nach erhöhter Sicherheit, welches sich durch Zögerlichkeit und Zukunftsangst ausdrückt (Quelle). Deshalb dauert es bei uns auch immer länger, bis sich Technologien etabliert haben, in deutschen Köpfen kreist das ewige „Aber was ist wenn…?“ herum. Was ist, wenn die Technologie mal streikt?

Zudem kommt ein Aspekt, der Nutzung betrifft: Deutschen ist der Fahrspaß sehr wichtig. Das Fahren an sich ist für viele Entspannung, manche nutzen Autofahrten, um nachzudenken oder um mal „richtig abzuschalten“. Es ist viel mehr, als das simple von A nach B kommen, es ist Wellness. Was könnte da mehr stören als eine Stimme aus dem Off oder ein Blinken auf dem Bedienungsschirm?

In China hingegen muss das Auto eine andere Rolle erfüllen, denn die Nutzung ist anders: Die Autorin Vera Hermes schreibt, dass chinesische Autos mit mehr Info- und Entertainment ausgestattet sind, weil die Fahrer deutlich mehr im Stau stehen. Das Auto ist die Erweiterung des Lebensraums, das fahrende Wohnzimmer. Da ist es ganz selbstverständlich, dass man in seinem fahrenden Wohnzimmer auch Entertainmentmöglichkeiten hat.

These 3: UX-Vorlieben von westlichen und asiatischen Usern: Es könnte nicht unterschiedlicher sein

Auch wenn Deutsche viele Gefühle für ihre Autos hegen, gelten sie in Punkto UX-Design eher als nüchtern und rational. Das gilt auch für die Software bei Bedienkonsolen. Tesla als westliche geprägte Marke legt hier ein sehr minimalistisches System an den Tag. Klare Kanten und Formen, sanfte Töne, alles soll sich ein bisschen wie Wellness anfühlen. Bloß nicht zu viel. Bitte kein blinken oder alberne Figürchen, die schrille Töne von sich geben. Wenig ist edel und wenig ist mehr.

In China hingegen gilt Minimalismus bei Technologien nicht nur als langweilig, sondern auch als weniger Wert. Das Motto ist: Je mehr ich sehe, desto mehr bekomme ich. Mehr ist mehr (Quelle). Dieses Credo sorgt regelmäßig für eine komplette Reizüberflutung bei westlichen Touristen: Die Rolltreppe spielt einen Jingle ab, die Toilette hat 20 verschiedene Knöpfe und das eAuto spricht mit mir und hat sogar ein Gesicht?! Für die chinesische Bevölkerung muss es laut und bunt sein, ansonsten geht die Information im Rauschen des Großstadtdschungel unter (Quelle).

These 4: Ein Mittel gegen Einsamkeit bei jungen Chinesen

Einen spannende Insight haben unsere UX-Kollegen aus China eingebracht: Chinesische Kunden (oft junge Männer), haben wenig Möglichkeiten, sich sozial akzeptiert über Emotionen und emotionale Themen zu unterhalten. In einer unserer aktuellen Studien, hat sich gerade diese Zielgruppe sehr über einen emotionalen Assistenten gefreut. Das könnte mit der starken Vereinsamung von jungen Männern in China zu tun haben, die demographischen Verteilung eine schlechtere Chance darauf haben, eine Partnerin zu finden, als dies in anderen Ländern der Fall ist (Quelle).

 

Was wollen wir Deutsche denn nun?

Fassen wir zusammen: Chinesen wollen viel. Verspielte Technologie. Das fahrende Heimkino. Eine Stimme und ein Gesicht. Eine Assistenz. Ein tanzendes Figürchen auf dem Display. Karaokefunktion im Auto. Entertainment gepaart mit Informationen.
Die Deutschen wollen Minimalismus und Übersicht auf den Bedienfeldern. Informationen reichen. Vielleicht ein ganz bisschen Entertainment. Ist es wirklich so einfach?

Was die einen minimalistisch nennen, nennen andere wiederum spartanisch. In deutschen Testberichten werden wenig Bedienelemente teilweise bemängelt, teilweise gelobt, es scheint eine Geschmackssache zu sein, die der ewigen Diskussion zwischen manueller Schaltung oder Automatik ähnelt und was davon nun das Bessere sei. Eines scheint aber deutlich: Deutsche wollen keine aufgedrückte Emotionalisierung, z.B. in Form eines Avatars.  Das Auto wird auch ohne erzwungene Persönlichkeit genug geliebt. Es ist zu albern, zu kindisch.

 

Fazit

Es heißt, „Das Auto ist des Deutschen liebstes Kind“. Was dieses Kind denn alles können soll, ist noch fragwürdig. Kindisch sein? Nein. Sprechen? Vielleicht in 2 Jahren. Befehle ausführen? Ja, vielleicht Basisfunktionen. Es soll ja immerhin ein Kind bleiben und kein störrischer Teenager mit eigener Meinung werden. Extras ja, neue Technologie gerne, aber bitte möglichst nüchtern.

Wir lieben unsere Autos, aber eher als ein Vehikel der Möglichkeiten, jedoch nicht als etwas, aus sich heraus (aufgedrückt) Liebeswertes. Deutsche tun sich schwer damit, Autonomie aufzugeben und sich auf die Technik zu verlassen. Immerhin steht das Fahren immer noch im Mittelpunkt und davon soll auch nicht abgelenkt werden. Das fahrende Heimkino kommt dann vielleicht später.

 

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Ansprechpartner

Wolfgang Waxenberger

Wolfgang begann seine Tätigkeit als UX-Profi im Jahr 2004 nach Abschluss seines MA in Politikwissenschaft und Soziologie. 10 Jahre lang leitete er SirValUse Consulting und die UX-Abteilung von GfK, bevor er uintent gründete. Wolfgang’s Schwerpunkt liegt auf Auto- und Healthcare Research.

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